Sie wurden über Nacht zu Kriegsflüchtlingen

Maria Pohorielova hat die Ukraine mit ihrem Lebenspartner Oleksii Skorokhod vor Kriegsausbruch in Richtung Filzbach verlassen. Jetzt sind sie zwei Flüchtende. Tränen lässt die lebenslustige Ukrainerin trotz Schmerz, Angst und Trauer nur selten zu.

In der sicheren Bergwelt: Maria Pohorielova und Oleksii Skorokhod sind aus der Ukraine geflüchtet und leben derzeit in Filzbach. Foto: Sasi Subramaniam.

Maria Pohorielova ist Künstlerin und aus Charkiw, der 1,4-Millionen-Stadt in der Ostukraine, in der zurzeit Bomben fallen und Menschen sterben. Seit Samstag, 26. Februar, wohnt sie mit ihrem Lebenspartner Oleksii Skorokhod im beschaulichen Filzbach, im ehemaligen Hotel «Mürtschenstock» – 2000 Kilometer fern der Heimat.

Wenn die 33-Jährige am Esstisch von ihrer Reise erzählt, wirkt sie unbeschwert, verspielt, geradezu kindlich. Schmerz, Angst und Trauer, so könnte man beinahe meinen, hat sie in der Ukraine zurückgelassen – bis klar wird: Während ihre Liebsten zu Hause leiden und die halbe Welt von den Ukrainern Stärke erwartet, erlaubt sie sich als Ukrainerin in der sicheren Schweiz Tränen, wenn überhaupt, dann nur in kurzen Momenten der Schwäche.

Aus Reisenden werden Flüchtende

Den Entschluss, in die Schweiz zu reisen, fällten Maria und Oleksii Anfang Februar, als sich die Situation an der russisch-ukrainischen Grenze immer mehr zuspitzte und sich eine Eskalation abzeichnete. Ihr Freund Marck habe sie immer eindringlicher darum gebeten, ihre Heimat zu verlassen und vorübergehend zu ihm nach Filzbach zu kommen.

Eigentlich heisst Marck Markus Tüscher und ist Videokünstler. Vor einigen Jahren hat der Exil-Zürcher das Hotel «Mürtschenstock» samt knarrenden Holztreppen und undichten Fenstern zu einer Mischung zwischen Künstler-Herberge, Atelier und Museum umgestaltet. Dort lebt und arbeitet er; und hie und da beherbergt er befreundete Künstler und Galeristen.

Zeigt Flagge: Der Künstler Marck (mitte) mit seinen Gästen aus der Ukraine. Foto: Sasi Subramaniam

Maria erinnert sich und erzählt: «Wir waren hin- und hergerissen. Unsere Freunde in Charkiw haben uns belächelt und gemeint, wir sollen ruhig bleiben. Für sie war alles wie immer.» Ihre Freunde aus der Stadt Donezk im schon länger umkämpften Donbas-Gebiet dagegen, wo Oleksii früher wohnte, hätten sie immer wieder vor einer Eskalation gewarnt.

Am 19. Februar schliesslich haben Maria und Oleksii ihr Geld zusammengesucht, sind Marcks Einladung gefolgt und per Zug, Bus und Fähre via Rumänien, Ungarn, Slowenien und Italien in Richtung Schweiz aufgebrochen.

Als am 24. Februar in der Ukraine der Krieg ausbrach und die ersten Bomben detonierten, befanden sich die beiden in Mailand. Per Handy konnte Maria rechtzeitig zwei Freundinnen organisieren, die ihre Mutter aus Charkiw wegbrachten und sie in ihr Heimatdorf Bohoduchiw, etwas ausserhalb der umkämpften Zone, schafften.

Die Realität meldet sich zurück

Bis zu diesem Zeitpunkt betrachteten sich Maria und Oleksii eigentlich nicht als Flüchtende. Sie besichtigten Bergamo, flogen von Neapel nach Mailand zum ersten Mal in ihrem Leben und konnten dort im Museum Originalwerke von Matisse und Picasso bestaunen. «Das waren unglaublich schöne Emotionen», schwärmt Maria mit funkelnden Augen.

Mit der Nachricht vom Krieg in der Heimat folgte der Zusammenbruch. Stundenlang habe sie in Adas Armen gelegen und mit ihr geweint. Ada ist ebenfalls Künstlerin. Auf ihrer Durchreise durch Italien lebten Maria und Oleksii zwei Nächte bei ihr und genossen «den besten Wein und die leckerste Pasta.» Vor ihrer Reise beschränkte sich der gegenseitige Kontakt auf das Internet.

Maria ist ihr unendlich dankbar. Wenn sie von Ada spricht, ist sie mehr als gerührt. Immer wieder pausiert sie, durchforstet ihr spärliches Englisch nach Worten, um wenigstens ansatzweise ausdrücken zu können, was sie für diese Frau empfindet. «Ada ist so zärtlich und sonnig», sagt sie schliesslich und lacht voller Freude, um im gleichen Moment in bittere Tränen auszubrechen.

Es sind diese kurzen Augenblicke, in denen sich Schmerz, Angst und Trauer der 33-Jährigen der Spur nach nachempfinden lassen. Vielleicht ist es der brutale Kontrast zwischen dem Dolce Vita in Italien und dem Kriegsausbruch in ihrer Heimat, den Maria noch einmal durchlebt, wenn sie erzählt. Vielleicht ist es die Solidarität, die sie in Italien und per Instagram aus aller Welt erfahren hat, welche ihre Gefühlsregungen provozieren. Vielleicht ist es alles zusammen.

Einen kurzen Moment später strahlt Maria wieder, fast wie ihre niedlichen, handgrossen Skulpturen aus Wolle – liebkosende Eisbären, verschiedene Früchtchen und Gemüse in verführerischen Posen, ein grinsender Glücksklee und mehr. «Heart of the art», so nennt die Künstlerin ihre Kunst passenderweise.

Wenig mitgenommen, viel zurückgelassen

In Como, kurz vor der Schweizer Grenze, ist Maria und Oleksii das Geld ausgegangen. Marck holte sie darauf mit dem Auto ab. Drei Monate wollten sie ursprünglich bei ihm in Filzbach bleiben. Nachdem sich die Lage beruhigt haben würde, wären sie in die Ukraine zurückgekehrt. «Das können wir jetzt nicht mehr», bedauert Maria. «Aber was wir genau tun werden, wissen wir auch nicht. Zurzeit sorgen wir uns rund um die Uhr darum, was als Nächstes passieren wird. Was weiss ich, was in einem, zwei oder drei Monaten sein wird.»

In einem Koffer hat Maria Material für ihre Kunst in die Schweiz mitgeschleppt. Foto: Sasi Subramaniam

Mitgenommen haben die zwei nur einen schwarzen Hartschalenkoffer, in dem Maria Filzwolle, Holzperlen und andere Utensilien für ihre Kunst transportiert, und einen kleineren für das Handgepäck. In ihm haben sie je drei T-Shirts, je ein paar Jeans, etwas Kosmetik, einen kleinen Block mit Zeichnungen aus Marias Kindheit und eine externe Harddisk gepackt, auf der sie sämtliche Fotos gespeichert haben, die sie finden konnten.

Ausserdem hat sie ihre schwarz-braunen, wuchtigen Winterstiefel aus Leder mitgeschleppt. Normalerweise trägt Maria sie nicht im Haus. Für die Zeitungsfotos aber möchte sie sie unbedingt anziehen – demonstrativ, so scheint es fast. Ihre Mutter sage nämlich immer: «Du bist ein Mädchen und kein Mann. Solche Schuhe tragen nur Männer.»

«Seit Tagen harren unsere Freunde im Keller aus.» /

Maria Pohorielova, Ukrainische Künstlerin

Zurückgelassen haben Maria und Oleksii mehr: Ihre Heimat, ihre neue Wohnung in Charkiw, ihr restliches Hab und Gut und vor allem Familie und Freunde. Aus Sorge stehen sie täglich mit ihnen in Kontakt. «Seit Tagen harren unsere Freunde zum Schutz im Keller aus», erzählt Maria und ringt sichtlich um Fassung. «Es fehlt ihnen an Nahrung, an Wasser, und anständige sanitäre Anlagen können sie auch nicht benutzen.»

Zwischendurch vibriert ihr Handy und es erreichen sie Nachrichten aus dem Kriegsgebiet – Lageberichte, Lebenszeichen und Videos. Sie öffnet die Bilder vom Raketeneinschlag auf dem Freiheitsplatz in Charkiw; das ukrainische Aussenministerium hat sie am Morgen veröffentlicht. «Unser Freund Bogdan wohnt genau hier», sagt sie und zeigt auf den Bildschirm, «nur einen Katzensprung entfernt. Er ist zum Glück in Ordnung, nur die Fenster seiner Wohnung sind zerborsten.»

Keine Wut auf die Russen

Die Rückkehr in eine Ukraine in russischer Hand ist für Maria und Oleksii keine Option. Wut oder Hass gegenüber Russen empfinden sie aber nicht, im Gegenteil. «Ich sorge mich um die Menschen in Russland, sie sind Putins Geiseln. Der kümmert sich genauso wenig um die Russen wie um die Ukrainer», schimpft Maria zornig. «Menschen sind für ihn nur Objekte.»

Marck gönnt sich gerade den letzten Löffel der Bortschsch-Suppe, die seine Gäste zubereitet haben, um ihrer Dankbarkeit Ausdruck zu verleihen, als Maria auf fünf getötete Zivilisten aus Charkiw zu sprechen kommt. Sie sollen am Morgen in ihrer Heimatstadt in einer Explosion ums Leben gekommen sein. Während sie redet, brechen bei ihr alle Dämme. «Sie wollten nur Wasser kaufen, jetzt sind sie nur noch totes Fleisch. Mein Herz ist gebrochen», wiederholt sie immer wieder. Sie trocknet ihre Augen, spannt ihre Oberarmmuskeln an und sagt: «Ich weine selten, ich bin stark.» Nach kurzem Überlegen präzisiert sie: «Meine Freunde sind stärker als ich. Sie müssen die Realität in der Ukraine aushalten.»

Publiziert in: Südostschweiz, Glarner Nachrichten, 10.3.2022

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