Wie «Blüttler» am Rand des Tösstals ihr Paradies suchen

Im Naturistenzentrum «Die neue Zeit» treffen sich bei schönem Wetter Menschen, um es nackt zu geniessen. Ein Besuch auf dem Sitzberg.

[Anm. Fotos gibts im Originalartikel. Hier wurden sie bewusst weggelassen. Feature Bild: Symbolfoto, Pixabay, Paulbr75]

Ein etwas mulmiges Gefühl habe ich schon, als ich mit dem Auto den steilen Kiesweg durch den Wald hinunter zum Naturistenzentrum «Die neue Zeit» auf dem Sitzberg holpere. Dort werden – anders als in einem Naturzentrum – keine seltenen Tier- oder Pflanzenarten in freier Wildbahn beobachtet; dort wird in freier Wildbahn blankgezogen, also «geblüttelt». 

Wie werde ich auf vermeintliche Massen von nackten Fremden reagieren? Was, wenn es auf dem Sitzberg doch wilder zu- und hergeht, als die Naturisten im Internet zugeben? Und vor allem: Bin ich hier, irgendwo im nirgendwo zwischen Wald und Wiesen, überhaupt richtig?

Ein brauner Hintern weist den Weg

Der braun gebrannte Hintern, der unterhalb des Feldweges in den Himmel ragt und zwischen einer Hecke hervorblitzt, beantwortet mir die Frage. 

Der Weg führt am ehemaligen Bauernhaus und heutigen Empfang vorbei auf den Parkplatz. Ein älterer Herr in Flipflops schlendert mit geschultertem Badetuch nackt über den Kiesplatz. Ab hier ist Nacktsein Pflicht. Der Mann grüsst freundlich, sagt, wir hätten uns einen schönen Tag für Fotos ausgesucht – als wäre Nacktsein auf einem Parkplatz mitten in der Natur das Normalste der Welt.

Ich bleibe erst mal angezogen. Beim Empfang wartet Norbert auf mich, bekleidet allein mit einem beigen Strohhut. Der sympathische Ostschweizer präsidiert den Verein «Natürlich Sitzberg», der das abgelegene Gelände betreibt. Er hat mich eingeladen. Bedingung: Es erscheinen keine Nachnamen und keine Gesichter der Gäste.

Nackte Haut und Bauernhaus-Idylle

Die dunkle Pilotenbrille nimmt Norbert ab, als er mir entgegenkommt, um mir die Hand zu schütteln. Das erleichtert es mir, ihm bei der Begrüssung nur in die Augen zu schauen. An der Fassade des Bauernhauses mit seinen roten Fensterläden hängen die Kantonswappen und eine grosse Schweizer Fahne; der Nationalfeiertag naht. Der Garten vor dem Gebäude wirkt gepflegt, der Rasen ist frisch gemäht. Neben einem Sitzplatz steht ein mannshoher Pizzaofen, und auf dem Sitzplatz sitzen zwei nackte Männer und zwei nackte Frauen.

Damit ist es auch für mich Zeit, mich auch auszuziehen. Das mache ich auf dem Fahrersitz meines Autos – zumindest halb. Mit der Fotografin habe ich mich darauf geeinigt, dass wir uns unserem Arbeitsverhältnis zuliebe mit einem Tuch bedecken.

Für Norbert ist das okay. Auch wenn er im Vorgespräch gesagt hat, dass das Nacktsein bald zum Normalsten der Welt werde, wenn alle nackt seien. Das kann natürlich sein. Noch aber irritieren mich die frei baumelnden primären und sekundären Geschlechtsteile fremder Menschen in ländlich-rustikaler Umgebung. Im Hamam oder in der Sauna hätte ich vielleicht weniger Mühe, rede ich mir ein. 

Alkohol- und Fleischverbot

Wir setzen uns zur Akklimatisation an einen Holztisch auf dem Gartensitzplatz und unterhalten uns über das Zentrum und den Verein.

An die hundert Mitglieder zählt «Natürlich Sitzberg» derzeit. Sie kümmern sich in ihrer Freizeit um knapp zehn Hektaren Land mit Campingplatz, Badmintonplatz, Swimmingpool und Sauna. Sie mähen den Rasen, reinigen den Pool, erledigen Reparaturarbeiten am Gebäude. 

Das ist die Lebensreform-Bewegung

Unter dem Begriff Lebensreform werden verschiedene soziale Reformbewegungen zusammengefasst, die ab Mitte des 19. Jahrhunderts entstanden sind. Vertreterinnen und Vertreter kritisierten die Industrialisierung, die Verstädterung und den Materialismus und setzten sich für eine naturnahe Lebensweise ein. Sie propagierten zum Beispiel den Vegetarismus, eine Freikörperkultur, verzichteten auf Alkohol und praktizierten Naturheilkunde. Zu den bekanntesten Vertretern zählt der Schweizer Arzt Max Bircher-Benner, der das Birchermüesli erfunden hat. Noch heute erinnern Reformhäuser an die Lebensreformbewegungen. (rme)

Das Land gehört der Stiftung «Die neue Zeit», die in Thielle am Neuenburgersee ein weiteres Naturistenzentrum betreibt. 1970 kaufte sie den Bauernbetrieb auf dem Sitzberg und verpachtete das Land in der Folge an verschiedene Pächter. Sie sollten dort ihre Vorstellung einer «Erholungsstätte gesunden, friedlichen Lebens» im Sinne der Lebensreform umsetzen (siehe Box).

Seit 2015 ist der Verein «Natürlich Sitzberg» für das Gelände verantwortlich. Nikotin, Alkohol und Fleisch sind hier bis heute verboten. Die Mitglieder sollen anderen Menschen und Meinungen respektvoll begegnen. Fragt man sie, warum sie gern nackt sind, finden viele: Wenn die Hüllen fallen, verschwinden die Unterschiede zwischen den Individuen. «Ansonsten führen die Mitglieder ein stinknormales Leben», sagt Vereinspräsident Norbert. Sie fänden aber, man könne es gut ein bis zwei Tage ohne Fleisch und Rauchen aushalten. 

«Wir sind kein Swingerclub»

Er führt uns durch das terrassierte Gelände vorbei am Gemüsegarten hinunter zum Swimmingpool, dem Herzstück des Naturistenzentrums. Hier liegen etwa fünfzehn Männer und Frauen auf selbst gezimmerten Holzliegen um das Becken, unterhalten und bräunen sich in der Sonne, blättern in einem Schmöker oder dösen vor sich hin. In den Pool springen bei 19 Grad Wassertemperatur die wenigsten.

Ihre Fudis sind nach dem verregneten Juli grösstenteils genauso weiss wie diejenigen von Badegästen mit Badehosen. Und überhaupt erinnert die Szenerie an eine ganz normale Badi, wären da nicht die entblössten Körper mehrheitlich pensionierter Menschen. «Wir wollen einfach unser Paradies geniessen», höre ich mehrmals, als ich frage, warum jemand nackt auf dem Sitzberg sei.

Aber ist das wirklich alles? Norbert kennt die Vorurteile, die bei solchen Fragen mitschwingen. «Viele meinen, wenn sich nackte Leute treffen, dann ist das das bunte Leben», sagt er und schmunzelt. Auf der Website von «Natürlich Sitzberg» steht deshalb mit roter Schrift: «Wir sind kein Swingerclub! Unsittliches Verhalten auf unserem Gelände bringen wir zur Anzeige.» 

Trotzdem könne man sexuelle Gedanken natürlich nicht ausschliessen, sagt Norbert. «Die kann man aber mit oder ohne Kleider haben.» Es sei auch schon vorgekommen, dass jemand aufdringlich gewesen sei oder sich eine Person belästigt gefühlt habe. «Dann suchen wir das Gespräch oder weisen die Person weg.»

Wenig Platz für Spiritualität

Etwas weiter unten am Waldrand sitzen Erika, Mireille, Peter und René auf ihren Klappstühlen im Schatten der Laubbäume und Tannen. Während wir uns unterhalten, spielen die beiden Männer zwischendurch auf dem benachbarten Hartplatz eine Runde Nackt-Tennis – in weissen Tennissocken und Turnschuhen.

Warum kommen die vier Rentner auf den Sitzberg? Sie wollen ihr «Paradies» erhalten und es in Ruhe geniessen, sind sie sich einig. Ausserdem könne hier jede und jeder so sein, wie er oder sie sein wolle. «Du kannst hier einen Zentner wiegen. Das ist uns doch gleich», sagt Erika, mit 81 Jahren die Vereinsälteste.

Sieht hier also wirklich niemand im Nacktsein etwas Spirituelles? Sucht keiner das Seelenheil in «Licht- und Luftbädern», wie es von Lebensreformern einst empfohlen wurde? Einer von etwa zehn interessiere sich hier für Spiritualität, sagt Norbert. Und Mireille: «Wir sind doch keine Sekte. Wir sind Geniesser.» In Neuenburg seien sie wohl spiritueller. «Aber hier wehren wir uns dagegen.»

Reichsbürger seien unerwünscht

Einen nackten Naturheilarzt oder eine Schamanin treffe ich auf dem Sitzberg tatsächlich nicht. Informatiker, Handwerker und einen Kameramann dagegen schon. Die genauen Beweggründe der verschiedenen Vereinsmitglieder sind mir immer noch unklar. Was sie zu vereinen scheint: Sie «blütteln» gern in der freien Natur. 

«Etwas speziell» seien sie ja schon, sagt mir Norbert, als wir vorbei an der Sauna und an ein paar Apfelbäumen hinauf zum Empfang spazieren. Willkommen sei deswegen aber noch lange nicht jede und jeder. Das Gelände ist nicht abgesperrt und auch zugänglich, wenn kein Vereinsmitglied anwesend ist. Tagesgäste können den Eintritt in ein Kässeli legen und sich in einer Liste eintragen.

Umso wichtiger sei es, den Leuten klarzumachen, was sie hier erwarte und was nicht. «Vor ein paar Jahren ist eine Frau zu uns gekommen und wollte aus Teilen des Geländes ein geschlossenes Tantra-Resort machen», sagt Norbert. Erotische Massagen mit spirituellem Anspruch. «Es kam für uns aber nicht infrage, das Gelände mit Sichtschutzwänden zu teilen und so eine Art Zweiklassengesellschaft zu schaffen.»

Auch Reichsbürger hätten schon angeklopft, um auf ihrem Campingplatz die Zelte für längere Zeit aufzuschlagen. «Leute, die die Schweiz als Firma bezeichnen und schon mit dem Gesetz in Konflikt gekommen sind», sagt Norbert.

Langzeitcamper prüft er deshalb jeweils mit einer Google-Suche; mit Vereinsaspiranten führt er ein Aufnahmegespräch. Deklarieren, ob man Vegetarier sei, müsse heute aber niemand mehr. Letztlich stimme die Vereinsversammlung darüber ab, wer aufgenommen werde und wer nicht.

Das Wildeste war die Fantasie

Die grossen Massen von Nackten haben mich auf dem Sitzberg nicht erwartet, denke ich, als ich mich auf dem Parkplatz wieder in meine Kleidung zwänge. Zwanzig Gäste waren es heute. Das Wildeste an meinem Besuch war die mässig abenteuerliche Fahrt hinauf zum Naturistenzentrum. Und meine Fantasie vor der Ankunft. 

Dann aber war ziemlich schnell alles ganz normal, und die Leute vor allem eines: freundlich. Wenn überhaupt, dann würde ich wohl aber trotzdem alleine «blütteln». Und vielleicht nicht ganz so «am Arsch der Welt». Am ehesten auf dem Balkon.

Publiziert: Landbote. 26.8.2023

Beitrag teilen

Schreibe einen Kommentar

Deine E-Mail-Adresse wird nicht veröffentlicht. Erforderliche Felder sind mit * markiert